Um Haaresbreite verpasst

Der rote, kellenförmige Sekundenzeiger springt gleich auf den Strich von der 12, der Zug ist abfahrbereit, es fehlen nur noch wenige Meter, wenige Schritte, die Fingerspitzen stehen kurz davor den Druckknopf für die Türöffnung zu berühren, doch dann, oh Schreck, die kleinen Lämpchen auf dem Knopf erlöschen, die Berührung kommt zu spät, kurz die Hoffnung, der Lokführer möge einen sehen und nochmals freigeben, leider nein, der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Fassungslosigkeit. Unverständnis. Warum? Warum konnte der Zug nicht warten? Es ging doch nur um Sekunden! Was sind schon Sekunden!

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Einen Zug knapp verpassen ist ärgerlich. Als Lokführer beim RBS, möchte ich Ihnen dies möglichst ersparen. Leider ist der Fahrplan jedoch so straff, dass es selten möglich ist zu warten, denn schon kleinere Verspätungen können sich schnell auf andere Züge übertragen. Trotzdem hatte ich anfangs Mühe, den Leuten direkt vor der Nase wegzufahren. Inzwischen hat sich das gelegt. Warum der Sinneswandel? Es liegt an der Betrachtungsweise. In erster Linie sieht man die herbeieilende Person und denkt an deren mögliches Schicksal, wenn sie den Zug verpasst. Doch gerechterweise sollte man zuerst an diejenigen denken, die schon im Zug sind, somit pünktlich waren und erwarten dürfen, dass sie auch rechtzeitig an ihrem Ziel ankommen. Vielleicht hat der eine oder andere Fahrgast nur wenig Zeit, um einen Anschlusszug zu erreichen und möchte dann seinerseits nicht vor bereits geschlossenen Türen stehen.

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Nun kann man anfügen, dass man auf jemanden, der fast beim Zug ist, warten könnte, da es die Abfahrt nur um Sekunden verzögert. Das stimmt, es macht vielleicht 15 Sekunden aus und was sind 15 Sekunden? Relativ viel, vor allem dann, wenn tröpfchenweise zehn weitere Personen kommen und den Schliessprozess der Türe immer wieder verhindern.

Auch für uns Lokführer sind 15 Sekunden viel, besonders in der Spitzenzeit. Wollen wir beispielsweise während der Wendezeit der S8 in Bern oder Jegenstorf auf die Toilette, dann reicht es uns kaum und wir sind um jede zusätzliche Sekunde froh. Deshalb bitte ich Sie liebe Fahrgäste um Verständnis, sollte ich Ihnen einmal direkt vor der Nase abfahren. Soweit es der Fahrplan jedoch zulässt, bin ich gerne bereit zu warten, besonders dann, wenn sich jemand wirklich beeilt.

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2 Kommentare

Kommentare

08. Juli 2016
Ursi Rohr

Liebe Lokführerin Danke für den Beitrag, ich hab ihn mir gleich ausgedruckt! Jetzt werde ich in Worb Dorf immer eine gute Antwort haben, wenn die Leute wegen genau dieses "Vergehens" an den Schalter kommen!!

12. Oktober 2016
Peter Eggimann

Seit vielen Jahren gibt es die Züge (Solothurn - Bern und umgekehrt), welche in Fraubrunnen und Grafenried nicht anhalten. Da jedoch die Fahrzeiten unverändert sind, müssen diese in Bätterkinden und Grafenried jeweils einige Minuten auf den Gegenzug warten. So stehen Züge mit geschlossenen Türen im Bahnhof Grafenried. Warum kann man nicht einsteigen?